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Die Welt am Scheideweg ...
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Patrick Walia 24.09.2019 (20 min Lesezeit)

Vor der UNO-Vollversammlung, die in den nächsten Tagen stattfinden wird,
hat der russische Außenminister Sergej Lawrow in einem Artikel die
russische Sicht auf die internationale Politik geschildert.

Der Artikel, der in einer russischen Zeitung erschienen und vom russischen
Außenministerium veröffentlicht worden ist, trägt den Titel „Die Welt am
Scheideweg und das System der internationalen Beziehungen der Zukunft“ und
zeigt die russische Version einer gerechten Weltordnung auf. Wenig
verwunderlich, dass Lawrow den Westen in dem Artikel scharf kritisiert.
Das gibt einen Vorgeschmack auf die Debatte der UNO-Vollversammlung und
ich halte den Artikel für eine Pflichtlektüre, für jeden politisch
interessierten Menschen, denn egal, welche Position man in geopolitischen
Fragen vertritt, man sollte auch die Position der anderen kennen. Daher
habe ich den Artikel übersetzt.

Beginn der Übersetzung:

In diesen Tagen wird eine weitere, die 74. Sitzung der UN-Vollversammlung,
und damit traditionell die internationale politische Saison eröffnet.

Die Sitzung beginnt vor dem Hintergrund eines tief symbolischen,
historischen Moments. Im nächsten Jahr werden wir große und zusammenhängende
Jubiläen feiern: den 75. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen
Krieg, dem Zweiten Weltkrieg, und die Gründung der Vereinten Nationen.
Indem man die geistlich-sittliche Bedeutung dieser Daten begreift, sollte
man sich auch an den epochalen politischen Sinn des Sieges im grausamsten
Krieg in der ganzen Geschichte der Menschheit erinnern.

Die Zerschlagung des Faschismus 1945 war von grundlegender Bedeutung für
den weiteren Verlauf der Weltgeschichte. Es wurden Bedingungen für die
Bildung der Nachkriegsordnung geschaffen, deren tragende Konstruktion die
UN-Charta war, bis heute die Grundlage des Völkerrechts. Das UN-zentrische
System bleibt auch heute stabil, verfügt über ein großes Festigkeits-
potential. Das ist eine Art „Sicherungsnetz“, das eine friedliche
Entwicklung der Menschheit unter Bedingungen der – in vielerlei Hinsicht
natürlichen – Nichtübereinstimmung von Interessen und des Wettbewerbs
zwischen den führenden Mächten garantiert. Bis heute ist die in den
Kriegsjahren gewonnene Erfahrung der Kooperation der Staaten mit
verschiedenen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Systemen ohne
ideologische Barrieren wichtig.

Bedauerlich ist, dass diese offensichtlichen Wahrheiten bewusst verschwiegen,
von einigen einflussreichen Kräften im Westen auch ignoriert werden.
Zudem sind jene aktiver geworden, die sich den Sieg im Zweiten Weltkrieg
aneignen, die Rolle der Sowjetunion bei der Zerschlagung des Faschismus
aus der Erinnerung löschen, die heldenhafte Rolle der Roten Armee bei der
Befreiung der Welt vom Faschismus in Vergessenheit geraten lassen und sich
nicht an die vielen Millionen sowjetischen zivilen Opfer des Krieges
erinnern wollen. Aus dieser Sicht ist eindeutig das Wesen des Konzeptes
der „Gleichheit des Totalitarismus“ zu erkennen. Da Ziel ist nicht einfach,
den Beitrag der Sowjetunion am Sieg zu unterminieren, sondern auch unserem
Land retrospektiv seine von der Geschichte bestimmte Rolle des Architekten
und Garanten der Nachkriegsordnung zu nehmen, und es als „revisionistische
Macht“ zu bezeichnen, die den Wohlstand der so genannten „freien Welt“
bedroht.

Eine solche Deutung der Vergangenheit bedeutet auch, dass laut einigen
Partnern die transatlantische Ankopplung und Verewigung der Militärpräsenz
der USA in Europa die größte Errungenschaft des Nachkriegssystems der
internationalen Beziehungen sein soll. Natürlich war das ganz und gar
nicht das Szenario, das die Verbündeten im Sinn hatten, als sie die
Vereinten Nationen gründeten.

Der Zerfall der Sowjetunion, der Fall der Mauer, das Ende der Teilung der
Welt in zwei „Lager“, die Auflösung der unversöhnlichen ideologischen
Konfrontation, die die Konturen der Weltpolitik de facto in allen Bereichen
und Regionen bestimmte, diese tektonischen Veränderungen führten leider
nicht zu einer feierlich im Frieden vereinigten Welt. Stattdessen hörte
man triumphalen Jubel darüber, dass das „Ende der Geschichte“ gekommen
sei und es ab jetzt nur noch ein einziges Zentrum geben werde, das
internationale Entscheidungen trifft.

Heute liegt es auf der Hand, dass die Versuche, eine unipolare Welt zu
errichten, gescheitert sind. Der Prozess der Verwandlung der Weltordnung
wurde unumkehrbar. Neue große Akteure, die über eine nachhaltige
Wirtschaftsbasis verfügen, wollen den regionalen und globalen Prozess
aktiver beeinflussen, beanspruchen zu Recht eine bedeutendere Beteiligung
an der Entscheidungsfindung. Die Nachfrage nach einem gerechteren und
inklusiveren System nimmt zu. Die Rückfälle in arrogante, neo-koloniale
Herangehensweisen, in denen sich die einen Ländern das Recht nehmen,
anderen den eigenen Willen zu diktieren, werden von einer absoluten
Mehrheit der Mitglieder der Weltgemeinschaft abgelehnt.

Das alles löst ein spürbares Unbehagen bei jenen aus, die sich seit
Jahrhunderten daran gewohnt haben, die Entwicklung der Welt durch ihre
monopolartige Überlegenheit zu bestimmen. Der Wunsch einer Mehrheit der
Staaten der Welt nach einem gerechteren System der internationalen
Beziehungen, nach echtem und nicht nur deklariertem Respekt der
Prinzipien der UN-Charta, stößt auf das Streben, die bestehende Ordnung
aufrechtzuerhalten, in deren Rahmen eine kleine Gruppe von Ländern und
internationalen Konzernen die Früchte der Globalisierung ernten kann.
Die Reaktion des Westens auf die Situation zeigt seine wahre Weltanschauung.
Die Rhetorik zu den Themen „Liberalismus“, „Demokratie“ und „Menschenrechte“
wird von Herangehensweisen begleitet, die auf Ungleichheit, Ungerechtigkeit,
Egoismus und der Überzeugung der eigenen Ausschließlichkeit ruhen.

Der „Liberalismus“, als dessen Schützer sich der Westen positioniert,
stellt den Menschen, seine Rechte und Freiheiten, ins Zentrum. Es stellt
sich die Frage: Wie passt die Politik der Sanktionen, wirtschaftlichen
Erdrosselung und unverhohlenen militärischen Drohungen gegenüber mehreren
souveränen Staaten – Kuba, Iran, Venezuela, Nordkorea, Syrien – dazu?
Sanktionen treffen direkt einfache Menschen, ihren Wohlstand, verletzen
ihre sozialen und wirtschaftlichen Rechte. Wie passt der Imperativ des
Schutzes der Menschenrechte zu Bombenangriffen auf souveräne Staaten, zum
bewussten Kurs auf die Zerschlagung ihrer Staatlichkeit, der zum Tode von
Hunderttausenden geführt hat und Millionen Iraker, Libyer, Syrer und
Vertreter anderer Völker zu unsäglichem Leiden verurteilte? Das Abenteuer
des „arabischen Frühlings“ vernichtete das einmalige ethnisch-konfessionelle
Mosaik im Nahen Osten und im Norden Afrikas.

Was Europa betrifft, kommen die Kümmerer der liberalen Idee ziemlich gut
mit massenhaften Verletzungen der Rechte der russischsprachigen Bevölkerung
in mehreren Länder der EU und ihrer Nachbarn aus, wo Gesetze verabschiedet
werden, die die in multilateralen Übereinkommen festgeschriebenen Rechte auf
Selbstbestimmung in Fragen der Sprache der nationalen Minderheiten grob
verletzen.

Was gibt es „Liberales“ in den Visums- und anderen Sanktionen des Westens
gegen die Bewohner der russischen Krim? Sie werden für die demokratische
Willensäußerung, für die Wiedervereinigung mit der historischen Heimat
bestraft: Widerspricht das nicht dem Grundrecht der Völker auf freie
Selbstbestimmung, und erst recht dem in internationalen Übereinkommen
festgeschriebenen Recht der Menschen auf freie Bewegung?

„Liberalismus“ – in seiner gesunden und unverzerrten Bedeutung – war
traditionell ein wichtiger Bestandteil der globalen, auch russischen,
politischen Gedanken. Doch die Vielfältigkeit der Entwicklungsmodelle
zeigt, dass der westliche „Korb“ der liberalen Werte nicht alternativlos
ist. Und erst recht dürfen diese Werte natürlich nicht mit Gewalt in andere
Staaten getragen werden – ohne Berücksichtigung der Geschichte der Staaten,
ihres kulturellen und politischen Hintergrundes. Wozu das führt, das zeigen
das Unglück und die Zerstörungen, die das Ergebnis der „liberalen“
Bombardierungen sind.

Aus der fehlenden Bereitschaft des Westens, die heutige Realität anzunehmen,
in der er nach Jahrhunderten die wirtschaftliche, politische und
militärische Dominanz der Weltpolitik verliert, ergab sich das Konzept
der „auf Regeln basierenden Ordnung“. Diese „Regeln“ werden entwickelt
und selektiv kombiniert, je nach den gerade aktuellen Bedürfnissen der
Verfasser der „Regeln“, die der Westen beharrlich implementiert. Das
Konzept wird aktiv umgesetzt. Sein Ziel ist, die universell abgestimmten,
völkerrechtlichen Instrumente und Mechanismen durch kleine Formate
auszutauschen, wo alternative, nicht auf Konsens basierende Methoden der
Regelung der jeweiligen internationalen Probleme ausgearbeitet werden.
Mit anderen Worten: Es wird versucht, den Prozess der Ausarbeitung der
Beschlüsse zu den Schlüsselfragen zu usurpieren.

Die Absichten der Initiatoren des Konzeptes der „auf Regeln basierenden
Ordnung“ berühren Vollmachten, die ausschließlich der UN-Sicherheitsrat
hat. Eines der jüngsten Beispiele: Als die USA und ihre Verbündeten es
nicht geschafft haben, den UN-Sicherheitsrat zur Billigung der politisierten
Beschlüsse zu bewegen, in denen der Führung Syriens unbegründet die
Anwendung verbotener Giftstoffe vorgeworfen wird, begannen sie mit der
Durchsetzung der für sie notwendigen „Regeln“ über die OPCW. Durch
Manipulation der existierenden Verfahren unter grober Verletzung der
Chemiewaffenkonvention haben sie erreicht, dass dem Technischen Sekretariat
der OPCW die Funktionen zur Ermittlung der Schuldigen bei der Anwendung
von C-Waffen übertragen wurden, was ein direkter Eingriff in die
Kompetenzen des UN-Sicherheitsrats ist. Die Versuche, die Sekretariate der
internationalen Organisationen zur Durchsetzung der eigenen Interessen
außerhalb der Rahmen der universellen, zwischenstaatlichen Mechanismen
zu „privatisieren“, sind auch in solchen Bereichen, wie der Friedens-
sicherung, dem Kampf gegen Doping im Sport und vielen anderen zu erkennen.

In dieser Reihe stehen auch die Initiativen zur Regelung der Journalistik,
die auf eine freiwillige Unterdrückung der Pressefreiheit gerichtet sind,
die interventionistische Ideologie der „Verantwortung für den Schutz“ von
wem oder was auch immer, die jede gewaltsame „humanitäre Intervention“ von
außen ohne Genehmigung des UN-Sicherheitsrats rechtfertigen sollen, wobei
eine angebliche Bedrohung der Sicherheit für die Zivilbevölkerung
herangezogen wird.

Besonders erwähnt werden muss das umstrittene Konzept der „Bekämpfung des
gewaltbereiten Extremismus“, das die Regierungen, die vom Westen für
undemokratisch, nicht liberal oder autoritär erklärt wurden, für die
Verbreitung von radikalen Ideologien und Ausbreitung des Terrorismus
verantwortlich macht. Die direkte Beeinflussung der Zivilgesellschaften
unter Umgehung der legitimen Regierungen lässt keine Zweifel bezüglich
des wahren Ziels bestehen: Man will die Anstrengungen zur Bekämpfung des
Terrorismus aus der Kompetenz der UNO nehmen und ein Instrument zur
Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten bekommen.

Das Implementieren solcher Neuheiten stellt ein gefährliches Phänomen des
Revisionismus dar, das die in der UN-Charta festgelegten Völkerrechts-
prinzipien ablehnt und den Weg zur Rückkehr in die Zeiten der Konfrontation
der Blöcke öffnet. Nicht umsonst denkt der Westen offen über eine neue
„Wasserscheide“ zwischen der „liberalen Ordnung, die auf Regeln ruht“ und
den „autoritären Mächten“ nach.

Der Revisionismus zeigt sich offen im Bereich der strategischen Stabilität.
Die Zerstörung zunächst des Raketenabwehrvertrags und nun – bei
einstimmiger Unterstützung der Nato-Mitglieder – des INF-Vertrags durch
Washington demontiert die gesamte Sicherheitsarchitektur im Bereich der
Raketen- und Atomwaffenkontrolle. Unklar bleiben auch die Aussichten des
NEW-START-Vertrages, weil die US-Seite auf unseren Vorschlag, die
Verlängerung des Vertrags nach seinem Ablauf im Februar 2021 zu vereinbaren,
nicht antwortet. Jetzt sehen wir in den USA alarmierende Zeichen des Beginns
einer Medienkampagne, die den Boden für einen endgültigen Verzicht auf den
Kernwaffenteststoppvertrag, den die USA nicht ratifiziert haben, was die
Zukunft dieses für den Frieden und die internationale Sicherheit sehr
wichtigen Dokumentes in Frage stellt. Washington begann mit der Umsetzung
der Pläne zur Stationierung von Waffen im All, wobei alle Vorschläge
abgelehnt werden, ein universelles Moratorium für die Bewaffnung des
Weltraums zu vereinbaren.

Hier ist noch ein Beispiel für revisionistische Regeln: Der Austritt der
USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran, eines vom UN-Sicherheitsrat
gebilligten kollektiven Vertrages, der eine Schlüsselrolle bei der
Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen spielt. In diese Reihe gehört
auch Washingtons demonstrative Weigerung, die einstimmigen Beschlüsse
des UN-Sicherheitsrats zur palästinensisch-israelischen Konfliktregelung
zu erfüllen.

Im Wirtschaftsbereich wurden protektionistische Hindernisse zur „Regel“,
also Sanktionen, der Missbrauch des Dollars als wichtigstes Zahlungsmittel
der Welt, der Konkurrenzkampf mit marktfremden Methoden, die
exterritoriale Anwendung der US-Gesetze, auch gegenüber den nächsten
Verbündeten.

Gleichzeitig bemühen sich unsere amerikanischen Kollegen darum, alle ihre
ausländischen Partner zur Eindämmung Russlands und Chinas zu mobilisieren.
Dabei machen sie keinen Hehl aus ihrer Absicht, einen Streit zwischen
Moskau und Peking zu provozieren und multilaterale Vereinigungen und
regionale Integrationsstrukturen in Eurasien und im asiatisch-pazifischen
Raum, die sich außerhalb der amerikanischen Kontrolle entwickeln, zu
zerstören. Sie setzen Länder unter Druck, die nicht nach ihren „Regeln“
spielen und es wagen, die „falsche“ Wahl zu treffen und mit Amerikas
„Gegnern“ zu arbeiten.

Und was ist das Ergebnis? In der Politik lassen sich die Zerstörung des
völkerrechtlichen Fundaments, der Mangel an Stabilität, die chaotische
Aufteilung des globalen Raums, das immer größere gegenseitige Misstrauen
der internationalen Akteure beobachten. Im Sicherheitsbereich werden die
Grenzen zwischen noch nicht gewaltsamen und gewaltsamen Methoden immer
undeutlicher, wenn es um das Erreichen von außenpolitischen Zielen geht:
die internationalen Beziehungen werden militarisiert; für Atomwaffen wird
in US-amerikanischen doktrinären Dokumenten eine immer größere Rolle
vorgesehen, wobei die „Schwelle“ für ihren möglichen Einsatz immer
niedriger wird; es entstehen immer neue Konfliktherde; die globale
Terrorgefahr ist und bleibt akut; der Cyberspace wird militarisiert.
In der Weltwirtschaft beobachten wir immer größere Preisschwankungen auf
Märkten; der Kampf um Märkte, Energieressourcen und deren Beförderungswege
wird immer verbissener; wir sehen Handelskriege und die Zerstörung des
multilateralen Handelssystems. Hinzu kommen der Aufschwung von Migrations-
prozessen und die Vertiefung der Konflikte zwischen Vertretern verschiedener
Nationalitäten und Konfessionen. Brauchen wir wirklich eine solche
„Weltordnung auf Basis von Regeln“?

Vor diesem Hintergrund sind die Versuche westlicher liberaler Ideologen,
Russland als „revisionistische Kraft“ darzustellen, einfach absurd. Wir
waren eines der ersten Länder, die auf die Transformation des internationalen
politischen und wirtschaftlichen Systems verwiesen haben, das aus objektiven,
historischen Gründen unmöglich statisch bleiben kann. Man sollte auch nicht
vergessen, dass die Konzeption der Multipolarität der internationalen
Beziehungen, die die wirtschaftliche und geopolitische Realität adäquat
widerspiegelt, noch vor zwei Jahrzehnten vom herausragenden russischen
Staatsmann Jewgeni Primakow formuliert wurde, dessen intellektuelles Erbe
auch heutzutage aktuell bleibt, wenn sein 90. Geburtstag begangen wird.

Die Erfahrungen der letzten Jahre zeugen davon, dass einseitige Methoden
zur Lösung von globalen Problemen zum Scheitern verdammt sind. Die vom
Westen vorangetriebene „Ordnung“ entspricht nicht den Bedürfnissen einer
harmonischen Entwicklung der Menschheit. Sie ist nicht inklusiv, sondern
auf eine Revision der wichtigsten völkerrechtlichen Mechanismen
ausgerichtet, lehnt kollegiales Zusammenwirken von Staaten ab und ist
generell nicht in der Lage, Lösungen für globale Probleme zu generieren,
die lebensfähig und langfristig stabil wären. Sie sind stattdessen nur
auf einen propagandistischen Effekt im Rahmen einer Wahlkampagne in
diesem oder jenem Land ausgerichtet.

Wofür plädiert Russland? Vor allem müsste man mit der Zeit gehen und das
Offensichtliche anerkennen: Die Etablierung der polyzentrischen Architektur
der internationalen Beziehungen ist unumkehrbar, auch wenn man versucht,
diesen Prozess künstlich zu bremsen oder sogar rückgängig zu machen. Die
meisten Länder wollen nicht Geiseln von fremden geopolitischen Absichten
sein, wollen eine auf ihre eigenen Interessen orientierte Innen- und
Außenpolitik ausüben. Es gehört zu unseren gemeinsamen Interessen, dafür
zu sorgen, dass sich die Multipolarität nicht nur auf die Kräftebalance
stützt, wie das in den früheren Phasen der Weltgeschichte der Fall war,
beispielsweise im 19. sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts,
sondern fair, demokratisch und vereinigend ist, die Vorgehensweisen und
Besorgnisse absolut aller Teilnehmer des internationalen Lebens
berücksichtigt und in eine stabile und sichere Zukunft führt.

Im Westen behauptet man oft, in einer polyzentrischen Welt würden Chaos
und Konfrontation wachsen, weil verschiedene Machtzentren nicht imstande
wären, sich auf etwas zu einigen und verantwortungsvolle Entscheidungen
zu treffen. Aber man sollte das wenigstens versuchen, vielleicht klappt
es doch? Dafür muss man nur Verhandlungen beginnen und sich zunächst
darauf einigen, nach einer Interessenbalance zu suchen. Man müsste auf
jegliche Versuche verzichten, sich eigene „Regeln“ auszudenken und diese
anderen als absolute Wahrheit aufzudrängen. Man sollte künftig die in der
UN-Charta verankerten Prinzipien strikt einhalten, vor allem das Prinzip
der souveränen Gleichheit der Staaten, unabhängig von ihrer Größe,
Regierungsform und ihrem Entwicklungsmodell. Es ist ja paradox, wenn
Staaten, die sich als musterhafte Demokratien geben, sich um Demokratie
nur dann kümmern, wenn sie von diesen oder jenen Ländern verlangen, die
Situation bei sich zu Hause im Sinne der westlichen Vorstellungen in
Ordnung zu bringen. Aber sobald es sich um Demokratie in den zwischen-
staatlichen Beziehungen handelt, vermeiden sie sofort faire Gespräche
oder versuchen, die Völkerrechtsnormen im Sinne ihrer eigenen Vorstellungen
zu deuten.

Natürlich geht das Leben immer weiter. Man sollte zwar das nach dem Zweiten
Weltkrieg entstandene System der internationalen Beziehungen, dessen
Schlüsselelement die UNO ist und bleibt, sorgfältig aufrechterhalten, es
aber gleichzeitig vorsichtig, aber konsequent, der modernen geopolitischen
Realität anpassen. Das gilt voll und ganz für den UN-Sicherheitsrat, wo der
Westen ohne berechtigte Gründe überdimensional vertreten ist. Wir sind
überzeugt, dass bei der Reformierung des UN-Sicherheitsrats vor allem die
Interessen der Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas berücksichtigt
werden sollten, während sich jede Formel auf das Prinzip der maximalen
Zustimmung der UN-Staaten stützen sollte. Ähnlich sollte man auch an der
Vervollkommnung des internationalen Handelssystems arbeiten und besonders
viel Wert auf die Harmonisierung der Integrationsprojekte in verschiedenen
Regionen legen.

Man sollte das Potenzial der G20 maximal einsetzen, dieser aussichtsreichen
und sehr umfassenden Struktur der globalen Verwaltung, in der die
Interessen aller wichtigen Akteure vertreten sind und Entscheidungen nur
bei Zustimmung aller Mitglieder getroffen werden. Eine immer größere Rolle
spielen auch andere Vereinigungen, die den Geist der wahren, demokratischen
Vielseitigkeit widerspiegeln und deren Arbeit die Freiwilligkeit, das
Konsensprinzip, die Gleichberechtigung, ein gesunder Pragmatismus und der
Verzicht auf Konfrontationen und blockierende Vorgehensweisen zugrunde
liegen. Dazu gehören die BRICS und die Shanghaier Organisation für
Zusammenarbeit, an denen sich unser Land intensiv beteiligt und in denen
es 2020 den Vorsitz übernehmen wird.

Es ist offensichtlich, dass man ohne echte Kollegialität, ohne eine
entpolitisierte Partnerschaft bei der zentralen koordinierenden Rolle der
UNO nicht imstande ist, den Konfrontationsgrad in der Welt zu senken, das
Vertrauen zu festigen und gemeinsame Herausforderungen und Gefahren
anzugehen. Es ist an der Zeit, sich auf eine einheitliche Deutung der
Völkerrechtsprinzipien und -normen zu einigen, ohne zu versuchen, immer
wieder diese oder jene Mängel der Gesetze auszunutzen. Es ist schwieriger,
Vereinbarungen zu treffen, als Ultimaten zu stellen, aber geduldig
vereinbarte Kompromisse wären ein viel zuverlässigerer Mechanismus, wenn
es um vorhersagbare internationale Beziehungen geht. Diese Vorgehensweise
ist heutzutage dringend nötig, um sachliche Verhandlungen über ein
zuverlässiges und gerechtes System der gleichen und unteilbaren Sicherheit
im euroatlantischen und eurasischen Raum zu beginnen. Diese Aufgabe wurde
schon öfter in auf höchster Ebene vereinbarten OSZE-Dokumenten deklariert.
Jetzt sollte man den Worten Taten folgen lassen. Die Gemeinschaft
Unabhängiger Staaten und die Organisation des Vertrags über kollektive
Sicherheit zeigten sich schon öfter bereit, ihren Beitrag zu dieser Arbeit
zu leisten.

Es ist wichtig, die friedliche Regelung von zahlreichen Konflikten zu
fördern, egal ob im Nahen Osten, in Afrika, Asien, Lateinamerika oder
im GUS-Raum. Die Hauptsache ist, dass bereits getroffene Vereinbarungen
eingehalten werden, ohne dass man versucht, sich Vorwände auszudenken,
um bei Verhandlungen übernommene Verpflichtungen nicht zu erfüllen.

Heutzutage ist vor allem der Widerstand gegen die Intoleranz aus religiösen
und nationalen Gründen wichtig. Wir rufen alle Seiten zur gemeinsamen
Vorbereitung einer Weltkonferenz für interreligiösen und interethnischen
Dialog auf, die im Mai 2022 unter der Ägide der Interparlamentarischen
Union und der UNO in unserem Land ausgetragen wird. Die OSZE, die ihre
grundsätzliche Position formuliert hat, indem sie den Antisemitismus
verurteilt, sollte genauso entschlossen gegen den Christenhass und
Islamhass auftreten.

Unsere bedingungslose Priorität ist und bleibt die Förderung der natürlichen
Prozesse der Gestaltung der „Großen Eurasischen Partnerschaft“, eines
großen Integrationsraums vom Atlantischen bis zum Stillen Ozean, an der
sich die Mitglieder der Eurasischen Wirtschaftsunion, der Shanghaier
Organisation für Zusammenarbeit, ASEAN und alle anderen Staaten des
Kontinents, auch die EU-Länder, beteiligen würden. Es ist kurzsichtig, die
Vereinigungsprozesse zu behindern, geschweige denn, sich voneinander zu
trennen. Es wäre ein Fehler, die offensichtlichen strategischen Vorteile
unserer gemeinsamen eurasischen Region in der heutigen Welt abzulehnen,
in der der Konkurrenzkampf immer intensiver wird.

Die konsequente Bewegung in diese gemeinsame schöpferische Richtung wird
nicht nur eine dynamische Entwicklung der nationalen Wirtschaften der
Mitgliedsländer fördern und Hindernisse bei der freien Bewegung von Waren,
Kapital, Arbeitskräften und Dienstleistungen beseitigen, sondern auch ein
festes Fundament der Sicherheit und Stabilität auf dem riesigen
Territorium zwischen Lissabon und Jakarta bilden.

Ob sich die multipolare Welt durch Kooperation und Harmonisierung der
Interessen oder durch Konfrontation und Rivalität gestalten wird, hängt
von uns selbst ab. Was Russland angeht, so werden wir einen positiven,
vereinigenden Weg fördern, der sich an der Entfernung von alten und an
der Verhinderung von neuen Trennungslinien orientiert. Unser Land trat
mit Initiativen auf solchen Gebieten wie der Verhinderung des Wettrüstens
im Weltall, der Entwicklung von wirkungsvollen Mechanismen der Terror-
bekämpfung, unter anderem im chemischen und biologischen Bereich, der
Vereinbarung von praktischen Maßnahmen, damit der Cyberspace nicht für
Beeinträchtigung der Sicherheit von Staaten oder für kriminelle Zwecke
genutzt werden kann.

Unsere Aufrufe zu ernsthaften Gesprächen über alle Aspekte der
strategischen Stabilität bleiben in Kraft. In letzter Zeit lassen sich
Aufrufe zu einem Wechsel der politischen Tagesordnung, zu einer
Erneuerung von Begriffen hören. Man schlägt vor, über „strategische
Zusammenarbeit“ – sprich über „multilaterale Eindämmung“ – zu reden.
Begriffe lassen sich besprechen, aber wichtig sind nicht die Begriffe,
sondern ihr Inhalt. Heutzutage ist es am wichtigsten, den strategischen
Dialog über konkrete Gefahren und Risiken zu beginnen und eine für alle
annehmbare Tagesordnung zu vereinbaren. Wie ein anderer Staatsmann
unseres Landes, nämlich Andrej Gromyko, dessen 110. Geburtstag in diesem
Jahr begangen wird, sagte: „Es ist besser, zehn Jahre lang Verhandlungen
zu führen, als nur einen Tag Krieg.“

Ende der Übersetzung
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