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Die Welt am Scheideweg ... _______________________________________________________________________ Patrick Walia 24.09.2019 (20 min Lesezeit) Vor der UNO-Vollversammlung, die in den nächsten Tagen stattfinden wird, hat der russische Außenminister Sergej Lawrow in einem Artikel die russische Sicht auf die internationale Politik geschildert. Der Artikel, der in einer russischen Zeitung erschienen und vom russischen Außenministerium veröffentlicht worden ist, trägt den Titel „Die Welt am Scheideweg und das System der internationalen Beziehungen der Zukunft“ und zeigt die russische Version einer gerechten Weltordnung auf. Wenig verwunderlich, dass Lawrow den Westen in dem Artikel scharf kritisiert. Das gibt einen Vorgeschmack auf die Debatte der UNO-Vollversammlung und ich halte den Artikel für eine Pflichtlektüre, für jeden politisch interessierten Menschen, denn egal, welche Position man in geopolitischen Fragen vertritt, man sollte auch die Position der anderen kennen. Daher habe ich den Artikel übersetzt. Beginn der Übersetzung: In diesen Tagen wird eine weitere, die 74. Sitzung der UN-Vollversammlung, und damit traditionell die internationale politische Saison eröffnet. Die Sitzung beginnt vor dem Hintergrund eines tief symbolischen, historischen Moments. Im nächsten Jahr werden wir große und zusammenhängende Jubiläen feiern: den 75. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg, dem Zweiten Weltkrieg, und die Gründung der Vereinten Nationen. Indem man die geistlich-sittliche Bedeutung dieser Daten begreift, sollte man sich auch an den epochalen politischen Sinn des Sieges im grausamsten Krieg in der ganzen Geschichte der Menschheit erinnern. Die Zerschlagung des Faschismus 1945 war von grundlegender Bedeutung für den weiteren Verlauf der Weltgeschichte. Es wurden Bedingungen für die Bildung der Nachkriegsordnung geschaffen, deren tragende Konstruktion die UN-Charta war, bis heute die Grundlage des Völkerrechts. Das UN-zentrische System bleibt auch heute stabil, verfügt über ein großes Festigkeits- potential. Das ist eine Art „Sicherungsnetz“, das eine friedliche Entwicklung der Menschheit unter Bedingungen der – in vielerlei Hinsicht natürlichen – Nichtübereinstimmung von Interessen und des Wettbewerbs zwischen den führenden Mächten garantiert. Bis heute ist die in den Kriegsjahren gewonnene Erfahrung der Kooperation der Staaten mit verschiedenen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Systemen ohne ideologische Barrieren wichtig. Bedauerlich ist, dass diese offensichtlichen Wahrheiten bewusst verschwiegen, von einigen einflussreichen Kräften im Westen auch ignoriert werden. Zudem sind jene aktiver geworden, die sich den Sieg im Zweiten Weltkrieg aneignen, die Rolle der Sowjetunion bei der Zerschlagung des Faschismus aus der Erinnerung löschen, die heldenhafte Rolle der Roten Armee bei der Befreiung der Welt vom Faschismus in Vergessenheit geraten lassen und sich nicht an die vielen Millionen sowjetischen zivilen Opfer des Krieges erinnern wollen. Aus dieser Sicht ist eindeutig das Wesen des Konzeptes der „Gleichheit des Totalitarismus“ zu erkennen. Da Ziel ist nicht einfach, den Beitrag der Sowjetunion am Sieg zu unterminieren, sondern auch unserem Land retrospektiv seine von der Geschichte bestimmte Rolle des Architekten und Garanten der Nachkriegsordnung zu nehmen, und es als „revisionistische Macht“ zu bezeichnen, die den Wohlstand der so genannten „freien Welt“ bedroht. Eine solche Deutung der Vergangenheit bedeutet auch, dass laut einigen Partnern die transatlantische Ankopplung und Verewigung der Militärpräsenz der USA in Europa die größte Errungenschaft des Nachkriegssystems der internationalen Beziehungen sein soll. Natürlich war das ganz und gar nicht das Szenario, das die Verbündeten im Sinn hatten, als sie die Vereinten Nationen gründeten. Der Zerfall der Sowjetunion, der Fall der Mauer, das Ende der Teilung der Welt in zwei „Lager“, die Auflösung der unversöhnlichen ideologischen Konfrontation, die die Konturen der Weltpolitik de facto in allen Bereichen und Regionen bestimmte, diese tektonischen Veränderungen führten leider nicht zu einer feierlich im Frieden vereinigten Welt. Stattdessen hörte man triumphalen Jubel darüber, dass das „Ende der Geschichte“ gekommen sei und es ab jetzt nur noch ein einziges Zentrum geben werde, das internationale Entscheidungen trifft. Heute liegt es auf der Hand, dass die Versuche, eine unipolare Welt zu errichten, gescheitert sind. Der Prozess der Verwandlung der Weltordnung wurde unumkehrbar. Neue große Akteure, die über eine nachhaltige Wirtschaftsbasis verfügen, wollen den regionalen und globalen Prozess aktiver beeinflussen, beanspruchen zu Recht eine bedeutendere Beteiligung an der Entscheidungsfindung. Die Nachfrage nach einem gerechteren und inklusiveren System nimmt zu. Die Rückfälle in arrogante, neo-koloniale Herangehensweisen, in denen sich die einen Ländern das Recht nehmen, anderen den eigenen Willen zu diktieren, werden von einer absoluten Mehrheit der Mitglieder der Weltgemeinschaft abgelehnt. Das alles löst ein spürbares Unbehagen bei jenen aus, die sich seit Jahrhunderten daran gewohnt haben, die Entwicklung der Welt durch ihre monopolartige Überlegenheit zu bestimmen. Der Wunsch einer Mehrheit der Staaten der Welt nach einem gerechteren System der internationalen Beziehungen, nach echtem und nicht nur deklariertem Respekt der Prinzipien der UN-Charta, stößt auf das Streben, die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten, in deren Rahmen eine kleine Gruppe von Ländern und internationalen Konzernen die Früchte der Globalisierung ernten kann. Die Reaktion des Westens auf die Situation zeigt seine wahre Weltanschauung. Die Rhetorik zu den Themen „Liberalismus“, „Demokratie“ und „Menschenrechte“ wird von Herangehensweisen begleitet, die auf Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Egoismus und der Überzeugung der eigenen Ausschließlichkeit ruhen. Der „Liberalismus“, als dessen Schützer sich der Westen positioniert, stellt den Menschen, seine Rechte und Freiheiten, ins Zentrum. Es stellt sich die Frage: Wie passt die Politik der Sanktionen, wirtschaftlichen Erdrosselung und unverhohlenen militärischen Drohungen gegenüber mehreren souveränen Staaten – Kuba, Iran, Venezuela, Nordkorea, Syrien – dazu? Sanktionen treffen direkt einfache Menschen, ihren Wohlstand, verletzen ihre sozialen und wirtschaftlichen Rechte. Wie passt der Imperativ des Schutzes der Menschenrechte zu Bombenangriffen auf souveräne Staaten, zum bewussten Kurs auf die Zerschlagung ihrer Staatlichkeit, der zum Tode von Hunderttausenden geführt hat und Millionen Iraker, Libyer, Syrer und Vertreter anderer Völker zu unsäglichem Leiden verurteilte? Das Abenteuer des „arabischen Frühlings“ vernichtete das einmalige ethnisch-konfessionelle Mosaik im Nahen Osten und im Norden Afrikas. Was Europa betrifft, kommen die Kümmerer der liberalen Idee ziemlich gut mit massenhaften Verletzungen der Rechte der russischsprachigen Bevölkerung in mehreren Länder der EU und ihrer Nachbarn aus, wo Gesetze verabschiedet werden, die die in multilateralen Übereinkommen festgeschriebenen Rechte auf Selbstbestimmung in Fragen der Sprache der nationalen Minderheiten grob verletzen. Was gibt es „Liberales“ in den Visums- und anderen Sanktionen des Westens gegen die Bewohner der russischen Krim? Sie werden für die demokratische Willensäußerung, für die Wiedervereinigung mit der historischen Heimat bestraft: Widerspricht das nicht dem Grundrecht der Völker auf freie Selbstbestimmung, und erst recht dem in internationalen Übereinkommen festgeschriebenen Recht der Menschen auf freie Bewegung? „Liberalismus“ – in seiner gesunden und unverzerrten Bedeutung – war traditionell ein wichtiger Bestandteil der globalen, auch russischen, politischen Gedanken. Doch die Vielfältigkeit der Entwicklungsmodelle zeigt, dass der westliche „Korb“ der liberalen Werte nicht alternativlos ist. Und erst recht dürfen diese Werte natürlich nicht mit Gewalt in andere Staaten getragen werden – ohne Berücksichtigung der Geschichte der Staaten, ihres kulturellen und politischen Hintergrundes. Wozu das führt, das zeigen das Unglück und die Zerstörungen, die das Ergebnis der „liberalen“ Bombardierungen sind. Aus der fehlenden Bereitschaft des Westens, die heutige Realität anzunehmen, in der er nach Jahrhunderten die wirtschaftliche, politische und militärische Dominanz der Weltpolitik verliert, ergab sich das Konzept der „auf Regeln basierenden Ordnung“. Diese „Regeln“ werden entwickelt und selektiv kombiniert, je nach den gerade aktuellen Bedürfnissen der Verfasser der „Regeln“, die der Westen beharrlich implementiert. Das Konzept wird aktiv umgesetzt. Sein Ziel ist, die universell abgestimmten, völkerrechtlichen Instrumente und Mechanismen durch kleine Formate auszutauschen, wo alternative, nicht auf Konsens basierende Methoden der Regelung der jeweiligen internationalen Probleme ausgearbeitet werden. Mit anderen Worten: Es wird versucht, den Prozess der Ausarbeitung der Beschlüsse zu den Schlüsselfragen zu usurpieren. Die Absichten der Initiatoren des Konzeptes der „auf Regeln basierenden Ordnung“ berühren Vollmachten, die ausschließlich der UN-Sicherheitsrat hat. Eines der jüngsten Beispiele: Als die USA und ihre Verbündeten es nicht geschafft haben, den UN-Sicherheitsrat zur Billigung der politisierten Beschlüsse zu bewegen, in denen der Führung Syriens unbegründet die Anwendung verbotener Giftstoffe vorgeworfen wird, begannen sie mit der Durchsetzung der für sie notwendigen „Regeln“ über die OPCW. Durch Manipulation der existierenden Verfahren unter grober Verletzung der Chemiewaffenkonvention haben sie erreicht, dass dem Technischen Sekretariat der OPCW die Funktionen zur Ermittlung der Schuldigen bei der Anwendung von C-Waffen übertragen wurden, was ein direkter Eingriff in die Kompetenzen des UN-Sicherheitsrats ist. Die Versuche, die Sekretariate der internationalen Organisationen zur Durchsetzung der eigenen Interessen außerhalb der Rahmen der universellen, zwischenstaatlichen Mechanismen zu „privatisieren“, sind auch in solchen Bereichen, wie der Friedens- sicherung, dem Kampf gegen Doping im Sport und vielen anderen zu erkennen. In dieser Reihe stehen auch die Initiativen zur Regelung der Journalistik, die auf eine freiwillige Unterdrückung der Pressefreiheit gerichtet sind, die interventionistische Ideologie der „Verantwortung für den Schutz“ von wem oder was auch immer, die jede gewaltsame „humanitäre Intervention“ von außen ohne Genehmigung des UN-Sicherheitsrats rechtfertigen sollen, wobei eine angebliche Bedrohung der Sicherheit für die Zivilbevölkerung herangezogen wird. Besonders erwähnt werden muss das umstrittene Konzept der „Bekämpfung des gewaltbereiten Extremismus“, das die Regierungen, die vom Westen für undemokratisch, nicht liberal oder autoritär erklärt wurden, für die Verbreitung von radikalen Ideologien und Ausbreitung des Terrorismus verantwortlich macht. Die direkte Beeinflussung der Zivilgesellschaften unter Umgehung der legitimen Regierungen lässt keine Zweifel bezüglich des wahren Ziels bestehen: Man will die Anstrengungen zur Bekämpfung des Terrorismus aus der Kompetenz der UNO nehmen und ein Instrument zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten bekommen. Das Implementieren solcher Neuheiten stellt ein gefährliches Phänomen des Revisionismus dar, das die in der UN-Charta festgelegten Völkerrechts- prinzipien ablehnt und den Weg zur Rückkehr in die Zeiten der Konfrontation der Blöcke öffnet. Nicht umsonst denkt der Westen offen über eine neue „Wasserscheide“ zwischen der „liberalen Ordnung, die auf Regeln ruht“ und den „autoritären Mächten“ nach. Der Revisionismus zeigt sich offen im Bereich der strategischen Stabilität. Die Zerstörung zunächst des Raketenabwehrvertrags und nun – bei einstimmiger Unterstützung der Nato-Mitglieder – des INF-Vertrags durch Washington demontiert die gesamte Sicherheitsarchitektur im Bereich der Raketen- und Atomwaffenkontrolle. Unklar bleiben auch die Aussichten des NEW-START-Vertrages, weil die US-Seite auf unseren Vorschlag, die Verlängerung des Vertrags nach seinem Ablauf im Februar 2021 zu vereinbaren, nicht antwortet. Jetzt sehen wir in den USA alarmierende Zeichen des Beginns einer Medienkampagne, die den Boden für einen endgültigen Verzicht auf den Kernwaffenteststoppvertrag, den die USA nicht ratifiziert haben, was die Zukunft dieses für den Frieden und die internationale Sicherheit sehr wichtigen Dokumentes in Frage stellt. Washington begann mit der Umsetzung der Pläne zur Stationierung von Waffen im All, wobei alle Vorschläge abgelehnt werden, ein universelles Moratorium für die Bewaffnung des Weltraums zu vereinbaren. Hier ist noch ein Beispiel für revisionistische Regeln: Der Austritt der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran, eines vom UN-Sicherheitsrat gebilligten kollektiven Vertrages, der eine Schlüsselrolle bei der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen spielt. In diese Reihe gehört auch Washingtons demonstrative Weigerung, die einstimmigen Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats zur palästinensisch-israelischen Konfliktregelung zu erfüllen. Im Wirtschaftsbereich wurden protektionistische Hindernisse zur „Regel“, also Sanktionen, der Missbrauch des Dollars als wichtigstes Zahlungsmittel der Welt, der Konkurrenzkampf mit marktfremden Methoden, die exterritoriale Anwendung der US-Gesetze, auch gegenüber den nächsten Verbündeten. Gleichzeitig bemühen sich unsere amerikanischen Kollegen darum, alle ihre ausländischen Partner zur Eindämmung Russlands und Chinas zu mobilisieren. Dabei machen sie keinen Hehl aus ihrer Absicht, einen Streit zwischen Moskau und Peking zu provozieren und multilaterale Vereinigungen und regionale Integrationsstrukturen in Eurasien und im asiatisch-pazifischen Raum, die sich außerhalb der amerikanischen Kontrolle entwickeln, zu zerstören. Sie setzen Länder unter Druck, die nicht nach ihren „Regeln“ spielen und es wagen, die „falsche“ Wahl zu treffen und mit Amerikas „Gegnern“ zu arbeiten. Und was ist das Ergebnis? In der Politik lassen sich die Zerstörung des völkerrechtlichen Fundaments, der Mangel an Stabilität, die chaotische Aufteilung des globalen Raums, das immer größere gegenseitige Misstrauen der internationalen Akteure beobachten. Im Sicherheitsbereich werden die Grenzen zwischen noch nicht gewaltsamen und gewaltsamen Methoden immer undeutlicher, wenn es um das Erreichen von außenpolitischen Zielen geht: die internationalen Beziehungen werden militarisiert; für Atomwaffen wird in US-amerikanischen doktrinären Dokumenten eine immer größere Rolle vorgesehen, wobei die „Schwelle“ für ihren möglichen Einsatz immer niedriger wird; es entstehen immer neue Konfliktherde; die globale Terrorgefahr ist und bleibt akut; der Cyberspace wird militarisiert. In der Weltwirtschaft beobachten wir immer größere Preisschwankungen auf Märkten; der Kampf um Märkte, Energieressourcen und deren Beförderungswege wird immer verbissener; wir sehen Handelskriege und die Zerstörung des multilateralen Handelssystems. Hinzu kommen der Aufschwung von Migrations- prozessen und die Vertiefung der Konflikte zwischen Vertretern verschiedener Nationalitäten und Konfessionen. Brauchen wir wirklich eine solche „Weltordnung auf Basis von Regeln“? Vor diesem Hintergrund sind die Versuche westlicher liberaler Ideologen, Russland als „revisionistische Kraft“ darzustellen, einfach absurd. Wir waren eines der ersten Länder, die auf die Transformation des internationalen politischen und wirtschaftlichen Systems verwiesen haben, das aus objektiven, historischen Gründen unmöglich statisch bleiben kann. Man sollte auch nicht vergessen, dass die Konzeption der Multipolarität der internationalen Beziehungen, die die wirtschaftliche und geopolitische Realität adäquat widerspiegelt, noch vor zwei Jahrzehnten vom herausragenden russischen Staatsmann Jewgeni Primakow formuliert wurde, dessen intellektuelles Erbe auch heutzutage aktuell bleibt, wenn sein 90. Geburtstag begangen wird. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeugen davon, dass einseitige Methoden zur Lösung von globalen Problemen zum Scheitern verdammt sind. Die vom Westen vorangetriebene „Ordnung“ entspricht nicht den Bedürfnissen einer harmonischen Entwicklung der Menschheit. Sie ist nicht inklusiv, sondern auf eine Revision der wichtigsten völkerrechtlichen Mechanismen ausgerichtet, lehnt kollegiales Zusammenwirken von Staaten ab und ist generell nicht in der Lage, Lösungen für globale Probleme zu generieren, die lebensfähig und langfristig stabil wären. Sie sind stattdessen nur auf einen propagandistischen Effekt im Rahmen einer Wahlkampagne in diesem oder jenem Land ausgerichtet. Wofür plädiert Russland? Vor allem müsste man mit der Zeit gehen und das Offensichtliche anerkennen: Die Etablierung der polyzentrischen Architektur der internationalen Beziehungen ist unumkehrbar, auch wenn man versucht, diesen Prozess künstlich zu bremsen oder sogar rückgängig zu machen. Die meisten Länder wollen nicht Geiseln von fremden geopolitischen Absichten sein, wollen eine auf ihre eigenen Interessen orientierte Innen- und Außenpolitik ausüben. Es gehört zu unseren gemeinsamen Interessen, dafür zu sorgen, dass sich die Multipolarität nicht nur auf die Kräftebalance stützt, wie das in den früheren Phasen der Weltgeschichte der Fall war, beispielsweise im 19. sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern fair, demokratisch und vereinigend ist, die Vorgehensweisen und Besorgnisse absolut aller Teilnehmer des internationalen Lebens berücksichtigt und in eine stabile und sichere Zukunft führt. Im Westen behauptet man oft, in einer polyzentrischen Welt würden Chaos und Konfrontation wachsen, weil verschiedene Machtzentren nicht imstande wären, sich auf etwas zu einigen und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Aber man sollte das wenigstens versuchen, vielleicht klappt es doch? Dafür muss man nur Verhandlungen beginnen und sich zunächst darauf einigen, nach einer Interessenbalance zu suchen. Man müsste auf jegliche Versuche verzichten, sich eigene „Regeln“ auszudenken und diese anderen als absolute Wahrheit aufzudrängen. Man sollte künftig die in der UN-Charta verankerten Prinzipien strikt einhalten, vor allem das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten, unabhängig von ihrer Größe, Regierungsform und ihrem Entwicklungsmodell. Es ist ja paradox, wenn Staaten, die sich als musterhafte Demokratien geben, sich um Demokratie nur dann kümmern, wenn sie von diesen oder jenen Ländern verlangen, die Situation bei sich zu Hause im Sinne der westlichen Vorstellungen in Ordnung zu bringen. Aber sobald es sich um Demokratie in den zwischen- staatlichen Beziehungen handelt, vermeiden sie sofort faire Gespräche oder versuchen, die Völkerrechtsnormen im Sinne ihrer eigenen Vorstellungen zu deuten. Natürlich geht das Leben immer weiter. Man sollte zwar das nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene System der internationalen Beziehungen, dessen Schlüsselelement die UNO ist und bleibt, sorgfältig aufrechterhalten, es aber gleichzeitig vorsichtig, aber konsequent, der modernen geopolitischen Realität anpassen. Das gilt voll und ganz für den UN-Sicherheitsrat, wo der Westen ohne berechtigte Gründe überdimensional vertreten ist. Wir sind überzeugt, dass bei der Reformierung des UN-Sicherheitsrats vor allem die Interessen der Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas berücksichtigt werden sollten, während sich jede Formel auf das Prinzip der maximalen Zustimmung der UN-Staaten stützen sollte. Ähnlich sollte man auch an der Vervollkommnung des internationalen Handelssystems arbeiten und besonders viel Wert auf die Harmonisierung der Integrationsprojekte in verschiedenen Regionen legen. Man sollte das Potenzial der G20 maximal einsetzen, dieser aussichtsreichen und sehr umfassenden Struktur der globalen Verwaltung, in der die Interessen aller wichtigen Akteure vertreten sind und Entscheidungen nur bei Zustimmung aller Mitglieder getroffen werden. Eine immer größere Rolle spielen auch andere Vereinigungen, die den Geist der wahren, demokratischen Vielseitigkeit widerspiegeln und deren Arbeit die Freiwilligkeit, das Konsensprinzip, die Gleichberechtigung, ein gesunder Pragmatismus und der Verzicht auf Konfrontationen und blockierende Vorgehensweisen zugrunde liegen. Dazu gehören die BRICS und die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, an denen sich unser Land intensiv beteiligt und in denen es 2020 den Vorsitz übernehmen wird. Es ist offensichtlich, dass man ohne echte Kollegialität, ohne eine entpolitisierte Partnerschaft bei der zentralen koordinierenden Rolle der UNO nicht imstande ist, den Konfrontationsgrad in der Welt zu senken, das Vertrauen zu festigen und gemeinsame Herausforderungen und Gefahren anzugehen. Es ist an der Zeit, sich auf eine einheitliche Deutung der Völkerrechtsprinzipien und -normen zu einigen, ohne zu versuchen, immer wieder diese oder jene Mängel der Gesetze auszunutzen. Es ist schwieriger, Vereinbarungen zu treffen, als Ultimaten zu stellen, aber geduldig vereinbarte Kompromisse wären ein viel zuverlässigerer Mechanismus, wenn es um vorhersagbare internationale Beziehungen geht. Diese Vorgehensweise ist heutzutage dringend nötig, um sachliche Verhandlungen über ein zuverlässiges und gerechtes System der gleichen und unteilbaren Sicherheit im euroatlantischen und eurasischen Raum zu beginnen. Diese Aufgabe wurde schon öfter in auf höchster Ebene vereinbarten OSZE-Dokumenten deklariert. Jetzt sollte man den Worten Taten folgen lassen. Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten und die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit zeigten sich schon öfter bereit, ihren Beitrag zu dieser Arbeit zu leisten. Es ist wichtig, die friedliche Regelung von zahlreichen Konflikten zu fördern, egal ob im Nahen Osten, in Afrika, Asien, Lateinamerika oder im GUS-Raum. Die Hauptsache ist, dass bereits getroffene Vereinbarungen eingehalten werden, ohne dass man versucht, sich Vorwände auszudenken, um bei Verhandlungen übernommene Verpflichtungen nicht zu erfüllen. Heutzutage ist vor allem der Widerstand gegen die Intoleranz aus religiösen und nationalen Gründen wichtig. Wir rufen alle Seiten zur gemeinsamen Vorbereitung einer Weltkonferenz für interreligiösen und interethnischen Dialog auf, die im Mai 2022 unter der Ägide der Interparlamentarischen Union und der UNO in unserem Land ausgetragen wird. Die OSZE, die ihre grundsätzliche Position formuliert hat, indem sie den Antisemitismus verurteilt, sollte genauso entschlossen gegen den Christenhass und Islamhass auftreten. Unsere bedingungslose Priorität ist und bleibt die Förderung der natürlichen Prozesse der Gestaltung der „Großen Eurasischen Partnerschaft“, eines großen Integrationsraums vom Atlantischen bis zum Stillen Ozean, an der sich die Mitglieder der Eurasischen Wirtschaftsunion, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, ASEAN und alle anderen Staaten des Kontinents, auch die EU-Länder, beteiligen würden. Es ist kurzsichtig, die Vereinigungsprozesse zu behindern, geschweige denn, sich voneinander zu trennen. Es wäre ein Fehler, die offensichtlichen strategischen Vorteile unserer gemeinsamen eurasischen Region in der heutigen Welt abzulehnen, in der der Konkurrenzkampf immer intensiver wird. Die konsequente Bewegung in diese gemeinsame schöpferische Richtung wird nicht nur eine dynamische Entwicklung der nationalen Wirtschaften der Mitgliedsländer fördern und Hindernisse bei der freien Bewegung von Waren, Kapital, Arbeitskräften und Dienstleistungen beseitigen, sondern auch ein festes Fundament der Sicherheit und Stabilität auf dem riesigen Territorium zwischen Lissabon und Jakarta bilden. Ob sich die multipolare Welt durch Kooperation und Harmonisierung der Interessen oder durch Konfrontation und Rivalität gestalten wird, hängt von uns selbst ab. Was Russland angeht, so werden wir einen positiven, vereinigenden Weg fördern, der sich an der Entfernung von alten und an der Verhinderung von neuen Trennungslinien orientiert. Unser Land trat mit Initiativen auf solchen Gebieten wie der Verhinderung des Wettrüstens im Weltall, der Entwicklung von wirkungsvollen Mechanismen der Terror- bekämpfung, unter anderem im chemischen und biologischen Bereich, der Vereinbarung von praktischen Maßnahmen, damit der Cyberspace nicht für Beeinträchtigung der Sicherheit von Staaten oder für kriminelle Zwecke genutzt werden kann. Unsere Aufrufe zu ernsthaften Gesprächen über alle Aspekte der strategischen Stabilität bleiben in Kraft. In letzter Zeit lassen sich Aufrufe zu einem Wechsel der politischen Tagesordnung, zu einer Erneuerung von Begriffen hören. Man schlägt vor, über „strategische Zusammenarbeit“ – sprich über „multilaterale Eindämmung“ – zu reden. Begriffe lassen sich besprechen, aber wichtig sind nicht die Begriffe, sondern ihr Inhalt. Heutzutage ist es am wichtigsten, den strategischen Dialog über konkrete Gefahren und Risiken zu beginnen und eine für alle annehmbare Tagesordnung zu vereinbaren. Wie ein anderer Staatsmann unseres Landes, nämlich Andrej Gromyko, dessen 110. Geburtstag in diesem Jahr begangen wird, sagte: „Es ist besser, zehn Jahre lang Verhandlungen zu führen, als nur einen Tag Krieg.“ Ende der Übersetzung _______________________________________________________________________