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Der Journalist als Staatsfeind
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multipolar-magazin.de
Der Journalist als Staatsfeind
25-29 Minuten

Die Rolle der Medien ist im Umbruch, wie die Anklage 
gegen Julian Assange zeigt, der nicht nur in London 
oder Washington als Staatsfeind gilt. Kaum eine 
Regierung hat gegen seine Inhaftierung protestiert 
oder ihn gar unterstützt. Auch große Teile der Presse 
äußern sich distanziert. Die durch WikiLeaks geschaffene 
Transparenz missfällt vielen.

PAUL SCHREYER, 22. Januar 2020, 4 Kommentare

Dass Assange Journalismus betreibt, wird zugleich von 
vielen bestritten, zuallererst vom US-Justizministerium, 
das im Mai 2019 klarstellte: „Assange ist kein Journalist“. 
Diese Beurteilung ist aus Sicht der Regierung zwingend, 
da man schlecht die eigene Pressefreiheit feiern und 
zugleich die Inhaftierung eines Reporters gutheißen kann.

Der Einschätzung haben sich inzwischen aber auch viele 
Medienschaffende angeschlossen. Ein prominentes Beispiel 
ist das angesehene „Committee to Protect Journalists“ (CPJ), 
eine Organisation, die sich seit vielen Jahrzehnten für 
Pressefreiheit und inhaftierte Journalisten einsetzt. 
Im Dezember 2019 veröffentlichte sie einen ausführlichen 
Report, der 250 Journalisten namentlich aufführt, die 
überall auf der Welt aus politischen Gründen inhaftiert 
werden. Assanges Name fehlt.

Robert Mahoney, ein erfahrener amerikanischer Reporter 
und CPJ-Vizechef, hatte sich zwar in einem Kommentar für 
Assanges Freiheit eingesetzt, erklärte aber zugleich:

    „Nach umfassenden Recherchen und Überlegungen hat 
	sich das CPJ entschlossen, Assange nicht als Journalisten 
	einzuordnen, zum Teil, da seine Rolle oft die einer 
	Quelle war, und weil WikiLeaks allgemein nicht wie ein 
	Nachrichtenportal mit einem redaktionellen Ablauf arbeitet.“

CPJ-Chef Joel Simon äußerte sich ähnlich. Es gebe 
eine „legitime Debatte, ob Assange als Journalist bezeichnet
werden kann“. Niemand aber bezweifle, dass er „eine Quelle“ sei 
und daher zu schützen. Diese Behauptung erscheint unsinnig. 
Assange ist kein Whistleblower, niemand, der wie Edward Snowden 
persönlich in einer Firma oder einer Behörde geheimes Wissen 
über Missstände erlangt hat und dieses öffentlich machen will. 
Assange ist selbst keine Quelle, sondern, wie ein Journalist, 
jemand, der Informationen von Whistleblowern veröffentlicht.

Ähnlich fragwürdig ist das Argument, WikiLeaks betreibe keinen 
Journalismus, da die Organisation keinen „redaktionellen Ablauf“ 
(„editorial process“) habe, und „nicht wie ein Nachrichtenportal“ 
arbeite. Das Wesen von Nachrichtenportalen besteht offenkundig 
nicht in bestimmten redaktionellen Gepflogenheiten sondern in 
der Veröffentlichung relevanter Neuigkeiten – was niemand 
WikiLeaks absprechen kann.

Die Einteilung in Journalisten auf der einen und Assange 
auf der anderen Seite wirkt wie ein rhetorischer Kniff, 
der es ermöglicht, sich von WikiLeaks zu distanzieren und 
zugleich als Verteidiger der Pressefreiheit aufzutreten – eine 
Position, die vielen Journalisten offenbar zweckmäßig erscheint. 
In ihrer Logik ist Assange „keiner von uns“, wird zwar zu 
Unrecht verfolgt, aber eben nur insoweit, wie auch Snowden, 
Manning und andere Whistleblower verfolgt werden. Diese 
Perspektive verträgt sich eher mit der Sichtweise von 
Regierungen, als der weitaus härtere und konfliktträchtigere 
Vorwurf, mit Assange werde ein unbequemer Vertreter der 
Presse vor Gericht gestellt.

Das CPJ ist Teil des Medienmainstreams und unterhält 
enge Verbindungen zu den großen Medienhäusern, die die 
Organisation auch finanziell unterstützen. Schon als die 
CPJ-Führung 2010 in einem Brief an Präsident Obama die 
Regierung vor einer Anklage des WikiLeaks-Chefs warnte, 
distanzierte man sich im selben Atemzug von der Person 
Assange, dessen „Motive und Ziele“ man sich „nicht zu 
eigen“ mache.

Doch ob man Assange nun mag oder nicht – seine 
komplizierte und widersprüchliche Persönlichkeit bietet 
durchaus Anlass zu letzterem –, er ist es, der stellvertretend 
für eine kritische Presse angegriffen wird. Man kann ihn 
für einen guten oder schlechten Journalisten halten, man 
kann seine politischen Vorstellungen teilen oder bekämpfen – 
aber er bleibt in dem, was er und WikiLeaks tun, ein Teil 
der Presse.

Ähnlichen Sinnes betont auch der Reporter Glenn Greenwald, 
dass die Einteilung in Journalisten und Nicht-Journalisten 
der Regierung und deren Angriff auf die Verfassung in die 
Hände spiele:

    „Die Pressefreiheit betrifft alle, nicht bloß eine 
	ausgewählte, privilegierte Gruppe von Bürgern, die 
	,Journalisten‘ genannt werden. Wenn Ankläger selbst 
	entscheiden können, wer unter den Schutz der Presse 
	fällt und wer nicht, dann schrumpft die Pressefreiheit 
	zur Freiheit einer kleinen, abgeschlossenen Priesterklasse 
	privilegierter Bürger, die von der Regierung zu 
	Journalisten ernannt werden.“

Greenwald erinnert an eine höchstrichterliche Einschätzung 
zum Ersten Verfassungszusatz, der in den USA die Pressefreiheit 
festschreibt. So hatte 1978 der damalige Oberste Richter 
der USA, Warren Burger, in einem Essay betont:

    „Kurz gesagt, der Erste Verfassungszusatz ,gehört‘ zu 
	keiner definierbaren Kategorie von Personen oder 
	Einrichtungen: Er betrifft alle, die seine Freiheiten 
	nutzen.“

Historisch gesehen steht das Wort „Pressefreiheit“ dafür, 
dass Regierungen nicht die Verbreitung von Informationen 
behindern dürfen, egal ob die Nachrichten mittels einer 
Druckerpresse oder über das Internet publiziert werden. 
Es geht dabei nicht um eine Personengruppe („die Presse“), 
sondern um die Möglichkeit der unbeschränkten Verbreitung 
von Informationen. Wenn erst eine staatliche Autorität 
entscheiden darf, wer durch die Pressefreiheit geschützt 
ist, dann ist keine unabhängige Kontrolle der Regierung 
möglich, und damit auch keine funktionierende Demokratie.
Hat Assange Trump unterstützt?

Dennoch verspüren viele Beobachter, die diese Gefahr durchaus 
sehen, zugleich großes Unbehagen in Zusammenhang mit WikiLeaks. 
Hat Assange mit der Veröffentlichung der E-Mails von 
Hillary Clintons Stab im Wahlkampf 2016 nicht eindeutig Partei 
für Donald Trump ergriffen und damit deutlich gemacht, selbst 
eine dubiose politische Agenda zu verfolgen? Sind seine 
Enthüllungen über Clinton nicht bloß ein persönlicher Rachefeldzug 
gegen die Obama-Regierung gewesen, nachdem diese seine juristische 
Verfolgung gestartet hatte?

Diese Einwände mögen auf den ersten Blick einleuchten, werfen 
aber tiefergehende Fragen auf. Denn hätte Assange die Informationen 
über Clintons offenkundig korruptes Politnetzwerk nicht 
veröffentlicht (unter anderem zeigen die Leaks, wie unter 
Obama Ministerposten nach Wünschen von Wall-Street-Bankern 
verteilt wurden), dann hätte er damit natürlich ebenfalls die 
Wahl beeinflusst, nur eben in anderer Richtung, zugunsten Clintons.

Nach welchem moralischem Standard aber soll es richtig sein, 
Korruption und unmoralisches Verhalten einzelner Politiker zu decken?
Relevant für eine Veröffentlichung sind aus journalistischer 
Sicht allein die Wahrheit und die öffentliche Bedeutung des 
Berichteten. Die von WikiLeaks enthüllten E-Mails waren zweifellos 
bedeutsam und offenkundig auch authentisch. Mit welchem Recht – und 
welchem Ziel – sollte dieses Wissen den Wählern vorenthalten werden? 
Welches Bild von Demokratie und der Möglichkeit einer fairen 
Meinungsbildung drückt sich in einem solchen Wunsch aus?

Der Guardian schrieb 2016, dass die E-Mails „ein Fenster in die 
Seele“ der Demokratischen Partei Clintons seien, „in die Träume 
und Gedanken derjenigen Klasse, der die Partei sich verpflichtet 
hat“ – und das sei gerade nicht die abgehängte und wütende Unter- 
oder Mittelschicht, sondern eine ganz andere Gruppe:

    „Für diese Klasse sind die Optionen immer recht angenehm. 
	Sie sind die komfortable und gebildete Hauptstütze unserer 
	modernen Demokratischen Partei. Sie sind auch die Fürsten 
	unserer Medien, die Architekten unserer Software, die Planer 
	unserer Straßen, die hohen Beamten unseres Banksystems, die 
	Autoren von so ziemlich jedem Plan zur Reform der Renten-
	versicherung oder zur Feinsteuerung des Nahen Ostens mit 
	Präzisionsdrohnen. Sie sind, so glauben sie, gar keine 
	Klasse, sondern die Erleuchteten, diejenigen, auf die man 
	zu hören hat, die sich aber nie selbst zu rechtfertigen 
	brauchen.“

Wie diese abgehobene Klasse das politische Geschehen lenkt, 
vor allem das haben die Leaks schwarz auf weiß der 
Öffentlichkeit gezeigt.
WikiLeaks als Entwicklungsschritt zur Demokratie

Assange hat, bei all seinen Fehlern und Alleingängen, 
etwas geschaffen, das es so in der Geschichte noch nie 
gab: WikiLeaks ist eine globale Sammelstelle für 
Informationen, die mächtige Interessengruppen, Regierungen 
oder Konzerne gern geheim halten möchten – zum Schaden der 
Öffentlichkeit. Bevor es diese Instanz gab, mussten 
Whistleblower einen vertrauenswürdigen Journalisten 
finden und darauf hoffen, dass es diesem nicht nur gelingt, 
die brisanten Informationen schnell bekannt zu machen, sondern 
auch, die Identität des Whistleblowers dauerhaft zu schützen.

Die etablierten Medien scheitern immer wieder an diesen beiden 
Aufgaben. Whistleblower werden enttarnt oder, wie Bradley Manning 
Anfang 2010, von den großen Redaktionen erst gar nicht ernst 
genommen und abgewiesen. Daher ist die Weitergabe von politisch 
brisanten Geheimnissen an diese Medien stets mit einem erheblichen 
persönlichen Risiko verbunden.

WikiLeaks hat dieses Risiko verringert. Das 2006 gestartete 
Internetportal funktioniert als Mittler und Anonymisierungsdienst 
zwischen Hinweisgebern und Öffentlichkeit. Dieses Verfahren hat 
mehrere große Vorteile für die Allgemeinheit. Durch das verringerte 
Risiko für den Whistleblower wird die Wahrscheinlichkeit der 
Veröffentlichung von Misständen, illegalem oder unmoralischem 
Verhalten erhöht. Auch können Medien nach der Veröffentlichung 
nicht zur Preisgabe der Quelle erpresst werden, da sie diese 
selbst nicht kennen. Weiterhin finden brisante Informationen 
von vornherein ein größeres, internationales Publikum – und 
können außerdem nicht durch etwaige Kontakte der Chefredaktion 
zur Regierung in letzter Sekunde doch noch unter den Teppich 
gekehrt werden.

So gelang es etwa der US-Regierung 2004, durch vertrauliche 
Verhandlungen mit der New York Times die Enthüllung der 
NSA-Überwachung amerikanischer Bürger über viele Monate, bis 
nach der Präsidentschaftswahl, hinauszuzögern. Der Reporter 
James Risen konnte sich gegenüber seinen Vorgesetzten nicht 
damit durchsetzen, den Bericht vor der Wahl zu veröffentlichen. 
Der damalige NSA-Chef Michael Hayden lobte später ausdrücklich 
den vertrauensvollen Austausch mit Philip Taubman, dem 
Washingtoner Büroleiter der New York Times, der 
„die Ernsthaftigkeit der Frage verstanden“ hätte. Solche 
Mauscheleien der Medien durchkreuzt WikiLeaks.

Der direkte und anonyme Weg an die Öffentlichkeit ist 
wesentlich, um Korruption und Unmoral in Staaten und Konzernen 
zu begrenzen. Das durch WikiLeaks verkörperte Organisations-
prinzip ist damit ein logischer Schritt in der Entwicklung 
von Gesellschaften, in denen Entscheidungsträger der 
Öffentlichkeit rechenschaftspflichtig sein sollen – also in 
der Entwicklung hin zu Demokratien. Wer das WikiLeaks-Prinzip 
bekämpft oder sich weigert, seine Unterstützer zu verteidigen, 
der hat offenkundig kein Interesse an einer solchen Entwicklung. 
Das ist die eigentliche Botschaft der politischen und juristischen 
Verfolgung von Julian Assange, die im April 2019 in seiner 
Inhaftierung in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis mündete.
Grenzenloses Recht im amerikanischen Imperium

Die Anklage der US-Regierung beruft sich auf das Spionagegesetz, 
das den Verrat militärischer Geheimnisse unter Strafe stellt. 
Dieses Gesetz wurde 1917, kurz nach dem Eintritt der USA in den 
Ersten Weltkrieg, beschlossen. Es richtete sich ursprünglich 
gegen deutsche Saboteure in Amerika und Bürger, die, so der 
damalige Präsident Woodrow Wilson, „das Gift der Untreue“ 
verbreiteten und „die Autorität und das Ansehen der Regierung 
in Verruf“ brächten.

Die Regierung wandte es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 
häufig gegen Sozialisten, Kriegsgegner und politische 
Dissidenten an. In jüngerer Zeit, unter den Präsidenten Obama 
und Trump, zielten die Ermittlungen meist auf Whistleblower, 
die illegale Aktivitäten der Regierung aufgedeckt hatten. 
Zur aktuellen Anklage erläutert das US-Justizministerium: 
„Assanges Handlungen riskierten ernsthaften Schaden für die 
nationale Sicherheit der USA, zum Nutzen unserer Gegner“.

Dabei ist Assange australischer Staatsbürger und außerhalb der 
USA selbstverständlich nicht an amerikanische Gesetze gebunden. 
Die gesamte Anklage beruht daher auf der stillschweigenden, 
juristisch absurden Annahme, amerikanisches Recht gelte auch 
außerhalb der USA. Mit der gleichen Logik könnten amerikanische 
Staatsanwälte einen chinesischen Journalisten anklagen, der in 
einer Pekinger Zeitung amerikanische Staatsgeheimnisse aufgedeckt 
hat und dessen Auslieferung nach Washington verlangen. Eine 
seltsame Vorstellung, die selbst in den USA niemand in die 
Realität umsetzen würde.

Das Beispiel zeigt daher gut die eigentliche Logik hinter 
der Strafverfolgung Assanges: Die USA beanspruchen einen 
informellen Rechtsrahmen, der die Landesgrenzen überschreitet 
und praktisch den Geltungsbereich des amerikanischen Imperiums 
umfasst. Anders gesagt: Australier, Europäer und überhaupt 
Bürger von Staaten, die den USA tributpflichtig oder anderweitig 
von ihnen abhängig sind, sollen sich politisch an Amerikas roten 
Linien ausrichten, oder laufen Gefahr, bestraft zu werden. 
Das ist die Logik des Imperiums, der sich viele bereitwillig 
unterwerfen.

So hatte die damalige australische Premierministerin 
Julia Gillard 2010, auf dem Höhepunkt der öffentlichen 
Aufmerksamkeit für WikiLeaks, erklärt, Assange handele 
„illegal“, eine Behauptung, die sie zurückziehen musste, 
nachdem man ihr erklärt hatte, dass Assange mit seinen 
Enthüllungen kein australisches Gesetz gebrochen hatte. 
Doch Gillard, selbst Anwältin, hatte mit ihrer Formulierung 
bloß intuitiv erfasst, dass Australien als informeller Teil des 
amerikanischen Imperiums genau das als illegal zu begreifen 
hat, was Washington so benennt.

Ein weiteres Beispiel für diese Logik sind die von den USA 
im Dezember 2019 verhängten Sanktionen gegen Firmen, die am 
Bau der deutsch-russischen Gaspipeline „Nord Stream 2“ beteiligt 
sind. Rechtlich geht es die USA nichts an, wenn zwei Länder 
beschließen, eine Pipeline zu bauen. Da das Projekt aber 
Deutschland betrifft und damit im informellen Geltungsbereich 
des amerikanischen Imperiums liegt, verstehen sich die USA 
als ermächtigt zu Strafmaßnahmen.

Der Fall Assange liegt grundsätzlich ähnlich. Neu ist, dass 
der Angriff des Imperiums sich nicht mehr nur gegen ungehorsame 
Untertanen, missliebige Regierungen oder Firmen richtet, sondern 
ganz offen gegen die internationale Presse. Selbst Barack Obama, 
der als US-Präsident mehrere Whistleblower, die Regierungsunrecht 
aufgedeckt hatten, mit Hilfe des Spionagegesetzes anklagen ließ, 
hatte davor zurückgescheut, die Medien dafür anzugreifen, dass 
sie unbequeme Geheimnisse veröffentlichten. Dieses Tabu ist nun 
gefallen. Kritische Journalisten, die staatliches Unrecht 
aufdecken, können ab jetzt zu Staatsfeinden erklärt und so 
behandelt werden, wie feindliche Spione im Krieg.
Schweigende Journalisten in der Bundespressekonferenz

Proteste gegen diesen Angriff auf die Pressefreiheit sind 
kaum zu vernehmen. Unmittelbar nach der Festnahme von Assange 
in der equadorianischen Botschaft im April 2019 erklärte die 
deutsche Bundesregierung auf Nachfrage, nicht zuständig zu 
sein („das betrifft nicht deutsches Regierungshandeln“). 
Die britische Justiz würde „selbstverständlich rechtsstaatlich 
entscheiden“.

Verhaltene Kritik kam von der russischen Regierung. Man „hoffe“, 
so ein Kreml-Sprecher nach der Festnahme, dass Assanges 
Rechte „respektiert werden“. Auf die Frage, ob Russland dem 
WikiLeaks-Chef Asyl gewähren würde, ging er nicht ein, ergänzte 
lediglich: „Aus unserer Sicht entspricht dies in keiner Weise 
den Idealen der Freiheit und Unverletzlichkeit der Medien.“

Die Medien in Deutschland reagieren zurückhaltend. Solidaritäts-
bekundungen bleiben selten und werden meist durch Distanzierungen 
eingeschränkt. Tenor: Assange sei zu weit gegangen. Dem ehemaligen 
SPIEGEL-Auslandschefs und heutigen PR-Berater Gerhard Spörl 
zufolge ist der inhaftierte WikiLeaks-Gründer ein verantwortungsloser 
Egomane, der leichtfertig alles veröffentlichte, was ihm in die Hände 
fiel und daher „Ansehen verspielt“ habe. Ähnlich staatstragend gibt 
sich die ZEIT, die bemängelt, dass Assange „Grenzen überschritten“ 
habe und bloß ein Journalist „sein will“. Den britischen und 
amerikanischen Gerichten hingegen solle man keine politische Agenda 
unterstellen, denn dies sei „Misstrauen in die Funktionsfähigkeit 
der Justiz, das keinem Journalisten gut steht“.

So ähnlich sehen es viele in der Presse. In einer funktionierenden 
Gesellschaft müsste ein Portal wie WikiLeaks eigentlich von allen 
Medien gemeinsam betrieben oder zumindest geschützt werden. 
Doch derzeit passiert eher das Gegenteil: Medien ducken sich weg 
oder greifen Assange sogar an. Vor allem aber schweigen sie.

Im Oktober hatte der UN-Sonderbeauftragte für Folter, Nils Melzer, 
von seinem Besuch bei Assange im Londoner Gefängnis berichtet, wo er 
im Beisein von Ärzten Symptome psychologischer Folter dokumentiert hatte. 
Dies wurde auch mehrfach in der Bundespressekonferenz thematisiert, 
allerdings ausschließlich von Florian Warweg, einem Journalisten des 
deutschen Ablegers des staatlichen russischen Senders RT. 
Dieser fragte über Wochen hinweg immer wieder nach, wie die 
Bundesregierung zu den Erkenntnissen des UN-Experten stehe und 
was sie zu unternehmen gedenke.

Die Regierungssprecher versuchten das Thema so gut wie möglich zu 
umschiffen. Am 16.10. hieß es in einer Antwort, man habe dazu 
„keine eigenen Erkenntnisse“, am 21.10., man werde sich 
das „anschauen“, am 15.11., man „kenne den Bericht leider nicht“, 
am 25.11. man habe „vollstes Vertrauen in die britische Justiz“, 
am 2.12. schließlich, es gebe gar keinen Bericht, sondern bloß 
Pressemitteilungen des UN-Beauftragten, am 23.12. wiederum, man 
habe sich zum Fall bereits „ausführlich geäußert“.

Bei keiner dieser Gelegenheiten gab es laut der Protokolle der 
Bundespressekonferenz irgendeine Nachfrage von Vertretern des 
öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder anderer Journalisten der Leitmedien. 
Sie waren zwar anwesend, aber niemand meldete sich, um die Phrasen 
der Regierung, abwechselnd vorgetragen von deren Sprechern Steffen 
Seibert, Maria Adebahr, Christofer Burger und Rainer Breul, kritisch 
zu hinterfragen. Die zuhörenden Journalisten blieben passiv – und 
gingen geräuschlos zur Tagesordnung über.

Ich wandte mich an mehrere Reporter von den Hauptstadtstudios der 
ARD und des ZDF, die an einigen der Pressekonferenzen teilgenommen 
hatten, und fragte, wie sie die Inhaftierung von Julian Assange mit 
Blick auf die Pressefreiheit bewerten würden. Die Korrespondenten 
der ARD reagierten mit Schweigen. Nick Leifert vom ZDF antwortete, 
zwar am 15. November dabei gewesen zu sein, als die UN-Foltervorwürfe 
im Fall Assange angesprochen worden waren, dazu aber keine Nachfragen 
gehabt zu haben. Das Thema wäre zu diesem Zeitpunkt auch schon vier 
Wochen alt gewesen.

Zur Frage, wie er die Inhaftierung von Assange insgesamt bewerte, 
meinte Leifert, er kenne sich mit dem Fall nicht aus, der gehöre 
auch nicht in sein Ressort. In gewisser Weise spiegelte der 
ZDF-Hauptstadtkorrespondent damit die Reaktion der Bundesregierung: 
Wir sind nicht zuständig. Leifert, selbst viele Jahre im Vorstand 
der Bundespressekonferenz tätig, betonte, man solle den realen 
Medienalltag nicht unterschätzen:

    „Wenn die anwesenden Redakteure mit Kenntnis ihrer 
	Redaktionssitzungen wissen, dass das an dem Tag kein Thema 
	in ihren jeweiligen Sendungen/Printmedien sein wird, dann 
	haben sie auch keinen zwingenden Grund, dazu Fragen zu stellen.“

Das trifft wohl zu. Allerdings verschiebt diese Beobachtung das 
Problem nur auf die nächsthöhere Ebene: Warum machen denn die 
Redaktionen und ihre Leitungen Assange nicht zum Thema?

„Lohnt es sich, diese Frage zu stellen?“

In der Bundespressekonferenz ist man nicht immer so zurückhaltend. 
Kritisches Nachhaken gehört dort durchaus zum Alltag. 
Allerdings verfügen die Kollegen allem Anschein nach über ein 
feines Sensorium für rote Linien, Opportunität und Pragmatismus. 
Anders gesagt: Sie wissen, was sich nicht lohnt. Befragt, wann 
eine Wortmeldung eines Journalisten dumm sei, hatte Maria Adebahr, 
Sprecherin des Auswärtigen Amtes, es einmal so formuliert:

    „Es gibt Fragen, von denen Sie, glaube ich, wissen, wie die 
	Antwort ausfallen wird. Das sind Fragen, bei denen man sich 
	natürlich fragen kann und sollte: Lohnt es sich, diese Frage 
	hier in diesem Moment zu stellen?“

Die Sprecherin machte damit klar, dass die Pressekonferenzen 
eigentlich Inszenierungen sind. Jeder, ob nun oben auf dem Podium 
oder unten im Publikum, hat seine Rolle zu spielen und weiß das auch. 
Wer negativ auffällt, läuft Gefahr, ersetzt zu werden. Einzelne 
„Paradiesvögel“ wie Tilo Jung toleriert man, doch im Grunde wissen 
alle Teilnehmer „was sich gehört“ und was nicht. Ein Journalist der 
staatlich finanzierten Deutschen Welle, und regelmäßiger Gast der 
Bundespressekonferenz, sagte einmal, man müsse die Regierung doch 
„nicht unbedingt vorführen“.

Kritik an der Regierung ist dennoch möglich und wird auch praktiziert, 
allerdings meist dann, wenn dies den Interessen einer höherstehenden 
Macht – etwa den USA – dient. So wurde zum Beispiel in der 
Bundespressekonferenz vom 25. November 2019 energisch nachgehakt, 
warum die Bundesregierung sich nicht stärker für die Einhaltung 
der Menschenrechte in China einsetzen würde. Mehr als zehn Minuten 
wurde das Thema diskutiert, verschiedenste Journalisten kooperierten, 
stellten nacheinander kritische Fragen und brachten die 
Regierungssprecher damit in die Defensive. 
Kritischer Journalismus live. 
Aber alle Beteiligten wissen eben auch: Kritik an China ist Mainstream, 
dafür bekommt niemand Ärger oder läuft Gefahr, isoliert zu werden.

Als eine halbe Stunde später in derselben Pressekonferenz nach der 
Haltung zu Assange und dessen Folterung gefragt wurde, blieben die 
gleichen Kollegen stumm – und zwar alle. Niemand sprang dem Reporter 
von RT Deutsch zur Seite, als die Sprecherin des Auswärtigen Amtes 
ihm gelangweilt antwortete, man habe „vollstes Vertrauen in die 
britische Justiz, dass sie diesen Fall unabhängig und rechtsstaatlich 
mit allen Facetten, die sich dort ergeben, bearbeitet“.

Am folgenden Tag wurde der UN-Sonderbeaufragte Nils Melzer im 
Auswärtigen Amt empfangen. Man teilte ihm dort umstandslos mit, 
seine beunruhigenden Berichte zu Assange und dessen Foltersymptomen 
erst gar nicht gelesen zu haben. Bei einer öffentlichen Anhörung im 
Bundestag am 27. November schilderte Melzer dies und stellte klar, 
worum es seiner Ansicht nach bei diesem Fall geht:

    „Es geht um den Rechtsstaat, es geht um die Demokratie, 
	es geht darum, dass wir es uns nicht leisten können, dass 
	Staatsmacht unüberwacht bleibt. Deshalb haben wir Gewaltenteilung. 
	Wenn die Gewaltenteilung nicht mehr funktioniert, dann brauchen 
	wir die Presse, und wenn die Presse nicht mehr funktioniert, 
	dann kommt eben WikiLeaks mit diesen Enthüllungen. Es geht um 
	staatspolitische Grundelemente – und die müssen geschützt werden.“

Allerdings ist weit und breit kaum jemand zu sehen, der die Absicht 
hat, diese Grundelemente zu schützen. Sie werden vor aller Augen 
zerlegt, und Journalisten mutieren dabei entweder zu geräuschlosen 
Mitläufern – oder zu Staatsfeinden. Die Gruppe dazwischen, für die 
einmal der Begriff „vierte Gewalt“ stand, radikale und eigenständige 
Kritiker, die von der Gesellschaft geschätzt und unterstützt, 
zumindest aber akzeptiert werden – jedenfalls nicht pauschal 
diffamiert oder ausgegrenzt –, diese Gruppe ist in Auflösung 
begriffen. Scharfe und grundsätzliche Kritik wird von den Etablierten 
nicht länger als lebensnotwendig angesehen, sondern als 
lebensgefährlich. Eine Gesellschaft aber, die sich in dieser Weise 
verschließt und nicht mehr zu reflektieren vermag, verliert 
ihre Entwicklungsfähigkeit. Sie verfällt.

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